Zur Wärmewende gehört auch eine Fernwärmewende

Interview mit Anton Koller, Leiter der Fernwärmesparte bei Danfoss

Die Fernwärme gilt vielen Experten als Königsweg, um regenerative Energiequellen und Abwärme in großem Stil in die Wärmeversorgung zu integrieren.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Fernwärmeversorger konsequent in die Modernisierung ihrer Netze investieren. Anton Koller, Leiter der Fernwärmesparte bei Danfoss, erläutert im Interview mit dem HeizungsJournal, worauf es hierbei ankommt – und welche Lösungsmöglichkeiten schon heute zur Verfügung stehen.

Herr Koller, Danfoss macht sich schon lange für einen Ausbau der Fernwärme stark. Da mag auch Lokalkolorit hineinspielen: In Dänemark, der Heimat des Unternehmens, hat die Fernwärme einen Marktanteil von 85 Prozent. In Deutschland hingegen sind es nur zwölf Prozent. Was steht bei uns einer Ausweitung des Marktanteils entgegen?

Vor allem die Trägheit der politischen Entscheider. Das Bundeswirtschaftsministerium etwa hat uns immer wieder versprochen, als Pendant zur „Bundesförderung effiziente Gebäude“ (BEG) auch eine „Bundesförderung effiziente Wärmenetze“ (BEW) aufzulegen. Doch während die BEG Anfang 2021 in Kraft getreten ist und dem Heizungsmarkt einen riesigen Schub gegeben hat, verharrt die BEW noch immer im Entwurfsstadium. Zwar hat das neue Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) jetzt angekündigt, dass die neue Förderung in Kraft gesetzt und sogar aufgestockt werden soll, sobald die beihilferechtliche Genehmigung seitens der EU vorliegt. Wann genau das sein wird, steht aber nicht fest.

Mit anderen Worten: Der Staat pusht die Modernisierung von Heizanlagen, nicht aber die Modernisierung und Erweiterung von Fernwärmenetzen.

Ganz genau. Dabei ist in der Fachwelt längst anerkannt, dass die Wärmewende nicht ohne Fernwärmeausbau gelingen kann. Nur mit Hilfe der Fernwärme als Verteiltechnologie ist es möglich, im Interesse des Klimaschutzes auch regenerative Energiequellen oder Abwärme aus Industrie und Rechenzentren in großem Stil in die Wärmeversorgung zu integrieren und so die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern. Dieser Abhängigkeit ein Ende zu machen, war übrigens auch das Ziel des dänischen Fernwärmeausbaus, wenngleich das Motiv zunächst ein anderes war. Dort hat man nach der Ölkrise der 1970er-Jahre entschieden, sich aus dem Klammergriff der OPEC-Staaten zu befreien und auf die Fernwärme zu setzen. Heute wissen wir, dass das auch im Hinblick auf den Klimaschutz der richtige Weg war. In Deutschland aber fehlt dennoch ein entschlossener politischer Schritt Richtung Fernwärme. Positiv zu vermerken ist immerhin, dass bei der Modernisierung von Heizanlagen immer häufiger auch kleine Wärmenetze eine Rolle spielen.

Nun kommt aber politisch doch gerade Bewegung in die Sache. Eine kommunale Wärmeplanung nach baden-württembergischem Vorbild, die zur Einbindung von regenerativen Energien und Abwärme in der Wärmeversorgung zwingt, soll laut der Ampel-Koalition künftig bundesweit Vorschrift werden. Außerdem will sich die neue Regierung ja offenkundig für den Ausbau der Wärmenetze einsetzen. Kann man hier wirklich noch von Trägheit sprechen?

Das sind positive Signale, keine Frage. Und gerade die kommunale Wärmeplanung in Baden-Württemberg ist in der Tat ein Modell, von dem man wirklich nur hoffen kann, dass es sich auch bundesweit durchsetzt. Das würde nicht nur der Fernwärme in die Karten spielen, es käme auch unserer Wirtschaft insgesamt zugute. Denn man darf nicht vergessen, dass der Fernwärmeausbau immer auch ein Beitrag zur lokalen Wertschöpfung ist: Es entstehen neue Arbeitsplätze vor Ort, die Fernwärme kann dadurch einen wesentlichen Beitrag zu einer echten „Green Recovery“ leisten – einem grünen Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Coronakrise, wie ihn auch die EU anstrebt. Es muss sich aber zeigen, ob den schönen Worten tatsächlich Taten folgen. Bei der „Bundesförderung effiziente Wärmenetze“ war das bisher nicht der Fall und das ist ein Problem – denn die ehrgeizigsten Planungen und Willensbekundungen nutzen wenig, wenn die Projekte nicht verwirklicht werden können.

Warum hängt ein erfolgreicher Fernwärmeausbau Ihrer Meinung nach derart stark von der noch ausstehenden „Bundesförderung effiziente Wärmenetze“ ab?

Ganz einfach: Zur Wärmewende gehört auch eine Fernwärmewende. In der Vergangenheit basierten ja auch Fernwärmesysteme oft auf großen Kohle- oder Gaskraftwerken, also auf fossilen Energiequellen, und viele tun das noch heute. Wenn Fernwärmenetze aber künftig Energie aus dezentral organisierten Wärmequellen verteilen sollen, dann gilt für sie dasselbe wie für Stromnetze, die elektrische Energie aus unterschiedlichsten Energiequellen verteilen sollen: Sie müssen modernisiert bzw. schon in Planung und Grundausbau an die Dezentralisierung der Erzeugerlandschaft angepasst werden. Insbesondere die Einbindung von Abwärme und regenerativen Energiequellen, deren Lieferqualität starken Schwankungen unterliegt, ist hier wie beim Strom-netz eine Herausforderung. Um diese Herausforderung zu bewältigen, sind nicht unerhebliche Investitionen in die Wärmenetzinfrastruktur erforderlich. Wenn die Versorger diese Investitionen alleine stemmen müssen, dann wird der Fernwärmeausbau zu langsam vorangehen und mit Blick auf unsere Klimaziele zu lange dauern.

In welche Richtung müssen die Modernisierungsinvestitionen der Wärmenetzbetreiber nach Ihrer Auffassung zielen? Was muss sich ändern?

Die Betreiber müssen Wege finden, die Netztemperatur zu senken. Denn die Nutzung von Abwärme oder Wärme aus regenerativen Energiequellen ist nicht mit Vorlauftemperaturen von 120 oder 130 °C zu vereinbaren. Das Energieniveau, das für solche Heißwassersysteme nötig ist, lässt sich mit diesen Wärmequellen einfach nicht erreichen. Werden im Vorlauf nur noch 60 °C oder weniger eingespeist, kann ein breiter Mix an Energie-quellen angezapft und das vorhandene Versorgungspotential optimal genutzt werden. Eine solche Absenkung sollte aber selbst dort angestrebt werden, wo noch fossile Kraftwerke im Einsatz sind. Denn bei Niedertemperaturnetzen wird weniger Energie zur Versorgung benötigt bzw. es können mit identischem Energieaufwand mehr Kundenanschlüsse versorgt werden. Zudem verringert sich der Umfang transportbedingter Wärmeverluste. All das wirkt sich schon beim Einsatz fossiler Energieträger äußerst positiv auf die Klimabilanz aus.

Kann so ein Niedertemperatur-Wärmenetz überhaupt einen hinreichenden Wohnkomfort und nicht zuletzt eine hygienisch einwandfreie Brauchwarmwasserversorgung gewährleisten, Stichwort Legionellenproblematik?

Ja, das ist beides kein Problem. Moderne Gebäudeisolierungen und mehrfachverglaste Fenster machen es heute generell möglich, Wohn- und Zweckbauten auch mit niedrigen Temperaturen effektiv zu beheizen. Und was die Legionellenproblematik beim Trinkwasser angeht, so wird oft übersehen, dass die Zirkulation mindestens genauso wichtig ist wie die Temperatur. Werden die Systeme hier sachgerecht konfiguriert, kommt es nirgendwo zur Legionellenbildung – auch nicht bei der Versorgung über ein Niedertemperaturnetz.

Was muss auf technologischer Ebene passieren, damit ein solches Niedertemperatur-Wärmenetz möglich wird?

Das Zauberwort heißt hier „End-to-End“-Optimierung. Und damit die gelingt, müssen sowohl der Versorger als auch der Kunde mitspielen. Auf der Versorgerseite muss der Netzbetrieb so exakt wie möglich an den tatsächlichen Bedarf angepasst werden, von der Erzeugung bis zur Wärmelieferung an die Übergabestation. Und auf der Kundenseite muss der Wärmebedarf reduziert werden, indem nicht nur die Gebäudeisolierung, sondern auch die Heizanlage optimiert wird, die Übergabestation inklusive.

Bleiben wir zunächst bei der Versorgerseite: Wie kommt man zu einer möglichst präzisen Anpassung der Wärmeversorgung an den tatsächlichen Bedarf?

Zunächst einmal muss ich den Bedarf überhaupt kennen, ich brauche also Informationen über die Charakteristik aller angeschlossenen Gebäude und das jeweilige Nutzerverhalten, zudem benötige ich Wetterdaten. Aufgrund der Netzträgheit muss ich stets vorausschauend agieren, also mit Bedarfsprognosen arbeiten, die anhand aktueller Wettervorhersagen sowie auf Basis teils historischer, teils aktueller Daten über Gebäude und Nutzer errechnet werden. Und dann muss ich sowohl die bedarfsorientierte Wärmeerzeugung als auch die Verteilung auf die einzelnen Teilnehmer hochpräzise steuern können. Dazu muss ich die Schwankungen in der dezentralen Einspeisung von Abwärme und erneuerbaren Energien korrekt erfassen bzw. möglichst sicher prognostizieren, ich muss die Thermohydraulik meines Netzes flexibel anpassen und ich muss den kompletten Netzbetrieb permanent und lückenlos überwachen. Ohne Digitalisierung geht hier gar nichts. Wir brauchen intelligente Wärmenetze, die von der Leitstelle des Versorgers bis zur Ventilkomponente im großen Stil durchautomatisiert sind. Denn die Komplexität des Zusammenspiels aller Netzbestandteile ist von niemandem mehr aus eigener Kraft zu bewältigen.

Das wäre dann das vielzitierte Wärmenetz 4.0, das Fernwärmenetz der vierten Generation. Aber wie realistisch ist das überhaupt? Ist das nicht bloß eine Utopie?

Dieses Netz wäre schon heute ohne Weiteres möglich. Wir bei Danfoss beispielsweise haben unter dem Label „Leanheat“ ein breites Portfolio an digitalen Lösungen entwickelt, die von der zentralen Netzsteuerung anhand von Prognose-, Simulations- und Monitoring-Tools bis zur Erfassung der Gebäudecharakteristik und des Nutzerverhaltens durch Künstliche Intelligenz den kompletten Netzbetrieb abdecken. Wir haben zudem intelligente Ventilkomponenten und Übergabestationen entwickelt, die sich nahtlos in einen digitalisierten Netzbetrieb integrieren lassen. Und was die Kundenseite angeht, so haben wir auch hier entsprechende Regelungs- und Ventillösungen im Programm, die eine smarte Heizungssteuerung bis hinunter auf die Feldebene möglich machen, sei es nun im Wohn- oder Zweckbau. Alle diese Lösungen und Komponenten auf Versorger- und Kundenseite lassen sich theoretisch miteinander in Beziehung setzen, so dass ein vollvernetztes Wärmesystem entsteht. In der Praxis wird das natürlich immer nur schrittweise umgesetzt werden, das ist klar. Aber möglich ist es.

Zurück zur Kundenseite, die hatten wir ja eben zunächst noch beiseitegelassen: Dass hier vielfach optimiert werden muss, um den Wärmebedarf zu reduzieren, leuchtet mit Blick auf ein Niedertemperatur-Wärmenetz ein. Aber wenn sich hier nichts tut, was dann?

Dann ist die Absenkung der Netztemperatur nicht vom Tisch, hier können die Versorger auch alleine einiges leisten. Aber für die Verwirklichung eines echten Niedertemperaturnetzes mit Vorlauftemperaturen von 60 °C oder darunter wird es dann schwierig. Überdimensionierte Übergabestationen mit veralteten Wärmeübertragern und schlecht regulierte Anlagen ohne vernünftigen hydraulischen Abgleich verbrauchen schlicht mehr Energie. Und wenn das bei vielen Kunden vorkommt, bleibt die Temperatursenkung auf halbem Wege stecken.

Muss man dann aus Versorgersicht nicht mit Sartre sagen: „Die Hölle, das sind die anderen?“ Oder gibt es Mittel und Wege, um Sanierungsdruck zu machen? Schlagen wir hier bewusst nochmal den Bogen zum Anfang: In Dänemark hat man es mit motivierenden Tarifen versucht. Wird bei der Fernwärmeübergabe eine vorgesehene Temperaturspreizung übertroffen, wird die Fernwärme billiger. Wird die Spreizung jedoch nicht erreicht, muss der Kunde mehr zahlen. Ein Modell auch für Deutschland?

Ich glaube nicht, dass sich das ein deutscher Versorger trauen wird, zumindest nicht in naher Zukunft. In Dänemark hat man da leichteres Spiel, weil die Abhängigkeit von der Fernwärme sehr viel größer ist. In Deutschland besteht hingegen die Gefahr, dass der Kunde abspringt und auf eine andere Wärmequelle umsteigt, etwa eine Wärmepumpe. Hier wird man deshalb eher an das ökologische Bewusstsein appellieren – und außerdem an den Spartrieb, denn im Moment wird die Sanierung sehr großzügig gefördert. Was die Kundenseite angeht, kann die BEG-Förderung der Fernwärme somit zumindest indirekt zugutekommen. Vorausgesetzt, der Kunde nutzt seine Möglichkeiten.

Zum Abschluss noch eine übergeordnete Frage: Weltweit ist ein Trend zur Urbanisierung zu beobachten, die Anzahl sogenannter Megacities und sehr großer Agglomerationsräume mit über zehn Millionen Einwohnern wird nach allen Prognosen weiter zunehmen. Was bedeutet das für die Zukunft unserer Wärmeversorgung und insbesondere für die Zukunft der Fernwärme?

Die Fernwärme als Verteiltechnologie ist ganz klar die beste Lösung zur klimafreundlichen Wärmeversorgung dicht besiedelter urbaner Räume, ein Fernwärmenetz rentiert sich deshalb gerade in solchen kompakten Siedlungsarealen.

Im Zuge der Quartiersentwicklung sollte vor diesem Hintergrund insbesondere in Neubaugebieten, aber sehr wohl auch in bestehenden Quartieren über einen konsequenten Fernwärmeausbau nachgedacht werden. Zu-gleich ist die Idee der Wärmeverteilung aber auch in weniger dicht besiedelten Gebieten interessant. In einer Dorfstraße etwa kann es dann einfach ein Nahwärmenetz geben, dass von einer zentralen Großwärmepumpe bedient wird. Das Grundkonzept, das hinter der Fernwärme steckt, hängt in seiner Nutzung nicht von Größenverhältnissen ab. Im Englischen etwa gibt es deshalb erst gar keine Unterscheidung zwischen Fernwärme und Nahwärme. Hier spricht man schlicht von „District Heating“ – das wird der Sache gerechter als unsere Begriffe das tun.

Weiterführende Informationen: https://www.danfoss.com/de-de/about-danfoss/insights-for-tomorrow/district-energy/

Mittwoch, 30.03.2022