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Erneuerbare Energien

Energie- und Wärmewende in den Niederlanden (ganz konkret) umgesetzt

Mittwoch, 14.11.2018

Leben im "Smart Neighbourhood"

Im "REnnovates"-Projekt geht die Idee des Energiemanagements aber noch einen Schritt weiter: Die einzelnen Häuser werden zu intelligenten Wohnquartieren vernetzt, in denen sich die Haushalte gegenseitig mit Energie aushelfen können. Das ist gerade angesichts der nationalen Pläne besonders wichtig: Mit immer mehr Elektroheizungen und künftig überwiegend elektrischen Autos muss das Stromnetz viel mehr Energie verteilen als bisher.

Ohne lokale Erzeugung im größeren Stil sowie intelligente Energieverteilung würde dies milliardenschwere Netzausbauten erfordern. Bei "REnnovates“ war daher von Anfang an der regionale Stromnetzbetreiber Stedin mit im Boot. Er schließt die einzelnen Wohnviertel nun, vernetzt über lokale Energiemanagement-Gateways und die zentrale Energiemanagement-Software von Enervalis, zu intelligenten "Micro Smart Grids" zusammen.

Beim Zusammenspiel der Energietechnik im Haus und einem möglichen Lastausgleich im Quartier treffen auch erstmals zwei zukunftsträchtige Vernetzungsmodelle aufeinander. Innerhalb der einzelnen Wohneinheiten sorgt die EEBUS-Kommunikation dafür, dass Wechselrichter, Stromspeicher, Wärmepumpe und Warmwasserspeicher ihren Energiebedarf mit dem variablen Angebot an Sonnenstrom abgleichen. Auf diesem Wege stehen die per EEBUS standardisierten Last- und Kapazitätsinformationen dem übergreifenden Energiemanagement zur Verfügung.

An der Übergabestelle zum Netz werden die Informationen aus allen Häusern dafür von einer Energiemanagement-Zentrale gesammelt und für die Nutzung im "Smart Grid" aufbereitet. Aufgrund von Wetterprognosen und Statistiken weiß die Cloud-Zentrale des Energiemanagements, welche Speicherkapazitäten und welchen Bedarf an Energie das Wohnviertel jetzt und in naher Zukunft haben wird. Diese Informationen stellt sie dann dem Betreiber des lokalen Netzes ebenfalls in einer "gemeinsamen Sprache" zur Verfügung: Im sogenannten USEF-Format (Universal Smart Energy Framework).

USEF wurde unter anderem von Stedin entwickelt und ist eine Sprache, die Flexibilität im Verteilnetz organisiert – im Grunde analog zur EEBUS-Kommunikation innerhalb des Hauses. Sie vermittelt zwischen Erzeugungs- und Speicherkapazitäten sowie Lasten und Verbrauchsanforderungen. Dabei verarbeitet USEF keine Daten aus einzelnen Häusern, sondern tauscht Informationen über Flexibilitätsangebote zwischen "Aggregator" (hier der zentrale "REnnovates"-Energiemanager), Verteilnetzbetreiber (sog. DSO – Distribution System Operator) und dem Stabilitätsmanager im Netz beziehungsweise beim Stromanbieter (sog. BRP – Balance Responsible Party) aus.

Ziel der Übung ist, möglichst viel lokal erzeugte Energie im Quartier zu nutzen oder zwischenzuspeichern und so die oberen Netzebenen nicht unnötig durch die neuen Stromverbraucher, wie Wärmepumpen oder künftig E-Auto-Ladestationen, zu belasten.

Bei "REnnovates" kommen sowohl Wärmepumpen mit elektrisch beheizten Warmwasserspeichern als auch Hausbatterien als flexible Speicher und Lasten zum Einsatz. In einzelnen "REnnovates"-Siedlungen wurden zusätzlich dazu Quartiersbatterien installiert, um noch mehr flexible Speicher- und Lastkapazitäten nutzen zu können.

Stedin-Projektplaner und USEF-Mitentwickler Milo Broekmans hält indes häusliche Stromspeicher für die beste Lösung: "Unser Ziel ist es, zusätzliche, flexible Lasten möglichst ohne teuren Netzausbau zu realisieren. Eine große Quartiersbatterie benötigt allerdings einen genügend starken Transformator und in der Regel auch ein stärkeres Netz, um PV-Überschüsse aus den einzelnen Häusern in die Batterie und später zurückzuleiten."

Die Modernisierung trägt sich selbst

Unterm Strich bringt die vernetzte Flexibilität für alle Beteiligten Vorteile: Der notwendige Netzausbau durch die Umstellung auf elektrische Heizungen und immer mehr E-Autos wird wirkungsvoll begrenzt, während sich die eingesetzte Technik vor Ort für Immobilienbesitzer und Mieter lohnt. Immobiliengesellschaften erhalten den Wert ihrer Objekte, während die Mieter von dauerhaft stabilen Energiekosten profitieren.

Tatsächlich ist das Projekt so kalkuliert, dass sich für die Bewohner kostenseitig nichts ändert: Die Kosten pro Haus betragen rund 50.000 Euro, die natürlich zunächst einmal finanziert werden müssen. Die Tilgung erfolgt dann aber über den viel geringeren Bedarf an Energie aus dem Netz: Mieter bezahlen künftig nur noch im Falle eines außerordentlichen Mehrverbrauchs eine minimale Stromrechnung. Die Differenz zur bisherigen Strom- und Gasrechnung wird als Servicepauschale für die neue Haus- und Energietechnik erhoben.

Immobiliengesellschaften, denen die Wohnsiedlungen gehören, gewinnen durch die Sanierung nicht nur den generellen Erhalt und eine deutliche Aufwertung der Immobilien. Die Royal BAM und ihre Partnerunternehmen gewährleisten gegen eine Servicepauschale auch den Betrieb und die technische Wartung der neuen Energietechnik in den Häusern. Die längere Nutzung der Immobilien mit gleichbleibenden bis leicht steigenden Mieteinnahmen und geringeren Unterhaltskosten sollen so die jetzige Investition in den nächsten Jahrzehnten refinanzieren.

Im Moment befindet sich das System noch in der Erprobungsphase, auch was die tatsächlichen Energie- und Kostenbilanzen angeht. Zukünftig sollen sich auch Kosten für den Netzausbau, welche sich durch die Flexibilisierung einsparen lassen, auf die Investitionen in den Häusern anrechnen lassen. Dann können die Royal BAM und ihre Partner als Betreiber der Energietechnik auch durch die Bereitstellung von Flexibilität im Stromnetz entsprechend den USEF-Anforderungen neue, zusätzliche Ertragsquellen erschließen.

Auf zwei weniger technische Schwerpunkte legen die "REnnovates"-Verantwortlichen besonderen Wert. Erstens: Diese Art der Modernisierung wurde nur möglich, indem sich die Konsortialpartner aus höchst unterschiedlichen Branchen zusammensetzten, sich austauschten und dabei ihre üblichen Denkmuster hinterfragten. Und: Der Bewohner bzw. der Gebäudenutzer steht bei "REnnovates" im Mittelpunkt. Das Projekt verbessert die Wohnqualität, senkt die Baukosten gegenüber individuellen Sanierungen, minimiert den Energieverbrauch und macht die Bewohner zu aktiven Teilhabern an der Energie- und Wärmewende.

Explosionsgrafik eines
Quelle: REnnovates
Standardisierte Komponenten bilden das energie- und gebäudetechnische Rückgrat von "REnnovates": Gedämmte und mit Isolierglasfenstern ausgestattete Vorder- und Rückfassaden, gedämmte Dachauflagen mit integrierten Photovoltaikzellen sowie ein "Energiemodul". Daneben werden die Häuser auch innen, etwa in Küche und Bad, renoviert – abhängig von den Wünschen und dem Budget der Immobilienbesitzer. Auf diese Weise wurden in den letzten Jahren rund 250 Häuser energetisch und baulich modernisiert.

Fazit: Über den "Zaun" zu schauen, kann sich lohnen!

Wenn man die "REnnovates"-Projekte betrachtet und sich mit deren Machern aus der Bau-, Energie- und Netzbetreiber-Branche unterhält, dann entsteht ein recht gutes Bild davon, wie die Energiewende und Sektorenkopplung funktionieren kann: Ein klarer Fokus auf die Vorteile aller Maßnahmen für die Nutzer sowie die Maxime, möglichst viel Energie dort zu gewinnen, wo sie auch benötigt wird, zeichnet "REnnovates" aus – vor allem, um kostspielige und schwierig umsetzbare Netzausbauten zu minimieren.

Diese Methode ist in den Niederlanden (auch politisch) hoch priorisiert: Der Minister für Wirtschaft und Klima, Eric Wiebes, trat beim Abschlussevent der ersten 250 "REnnovates"-Nullenergiehäuser auf und machte sich für weitere "Stroomversnelling"-Projekte stark. Kurze Zeit vorher zog der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier (CDU), durch Deutschland und propagierte auf dürren Feldern den Netzausbau im großen Stil (Hash-tag: #NetzeJetzt). Von einer Förderung der Flexibilität in den hunderten deutschen Verteilnetzen war dabei kein Wort zu hören.

Immerhin: Das europäische "REnnovates"-Konsortium hat bereits Niederlassungen in mehreren Ländern eröffnet, um das Konzept der holistischen, systematischen und bezahlbaren energetischen Modernisierung auf andere Märkte zu übertragen – auch nach Deutschland!

Von Reinhard Otter
Redaktionsbüro R.OT, Stuttgart
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